Zuerst erschienen in der Ausgabe .public 03-2019
von Dr. Andreas Kahnert und Maria Rösch
Führung in Zeiten der Digitalisierung
In seinem neuen Buch »Toleranz: einfach schwer« 1 beschreibt der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck unter anderem die Spaltung unserer Gesellschaft in die beiden Gruppen multikulturalistische, liberale Weltbürger und eher Sesshafte, die stärker mit ihren Orten, Familien und Milieus verbunden sind. Er verwendet dabei die Bezeichnungen des Publizisten David Goodhart, der die beiden Lager „Anywheres“ und „Somewheres“ nennt.2 Die Anywheres, das seien „Mobile, die der Welt mit Offenheit begegnen und als qualifizierte und mobile Fachkräfte tendenziell überall einsetzbar“ wären. Goodhart schätzt diese Gruppe auf 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung. Die Somewheres dagegen seien die Sesshaften, die stärker mit ihren Orten, ihren Familien und Milieus verbunden wären und meist ein geringeres Einkommen hätten. Sie würden sich nicht nur durch ihre materiellen, sondern stärker noch durch ihre kulturellen Charakteristika unterscheiden. Für die Weltbürger stehe Freiheit an erster Stelle, für die Sesshaften die Sicherheit.
Auch wenn diese Einteilung klischeehaft und plakativ erscheint und in der Realität die Übergänge zwischen den beiden Gruppen fließend sind, lassen sich an ihr sehr einleuchtend die unterschiedlichen Bedürfnisse und die daraus resultierenden Interaktionen zwischen ihnen veranschaulichen.
Gauck fand weitere Quellen, die in geradezu prophetischer Weise diese Aufspaltung der Gesellschaft und die damit verbundenen Probleme vorhersagten. Die Globalisierung, so Gauck, schaffe mehr Offenheit, mehr Vernetzung, mehr globalen Spielraum und begünstige diejenigen, die die neuen Produktivkräfte zu nutzen verstehen. Aber sie benachteilige diejenigen, deren traditionelles Berufsbild überflüssig würde oder deren Arbeitsplätze in Billiglohnländer auswanderten oder wegfallen. Schon vor gut 20 Jahren, so Gauck, habe Ralf Dahrendorf daher eine „massive Gegentendenz“ vorausgesehen. Die Entgrenzung, die auf der einen Seite stattfinde, rufe auf der anderen Seite das Bedürfnis nach Zugehörigkeit hervor, ganz allgemein die „Suche nach Gemeinschaft“ sowie die Hinwendung zu kleineren Räumen.
Während Gauck mit dieser Spaltung Phänomene des gesellschaftlichen Wandels wie zum Beispiel Pegida, AfD, Trump und die Gelbwesten erklärt, sehen wir viele Parallelen in der Arbeitswelt mit ihren Veränderungen. Daher nutzen wir das Modell der Anywheres und der Somewheres, um auf diese Dichotomie hinzuweisen, deren Bedeutung in der öffentlichen Verwaltung immer noch stark unterschätzt wird. In der öffentlichen Verwaltung (so wie sicherlich in der gesamten Arbeitswelt) löst die Digitalisierung, verstärkt durch demografischen Wandel und Globalisierung, Ängste und das Gefühl von Bedrohung aus. Während sich für Anywheres neue Chancen und Freiheiten ergeben, wachsen für die Somewheres die Ängste und Nachteile in der Arbeitswelt. So, wie (laut Goodhart) in Großbritannien immerhin 60 Prozent der Menschen innerhalb eines 30-Kilometer-Radius um den Ort herum leben, an dem sie bereits mit 14 Jahren gelebt haben, so verharren auch die Somewheres der Arbeitswelt in den Arbeitsprozessen, -methoden und -werkzeugen der vordigitalen Zeit. Der Erfolg der einen kann – auch in der öffentlichen Verwaltung – in Ablehnung, Wut und sogar Hass derer münden, die sich von Politik, Behördenleitung und ihren Führungskräften nicht oder nicht ausreichend wahrgenommen und anerkannt fühlen.
Die Bedürfnisse beider Gruppen ernst nehmen
Im Rahmen der IT-Konsolidierung des Bundes arbeiten das BMI und die IT-Dienstleistungszentren des Bundes an der Umsetzung und Einführung von IT-Maßnahmen, die die Arbeitsweisen und das Arbeitsumfeld von mehreren hundert Behörden und bis zu 350.000 Bediensteten der Bundesverwaltung zum Teil grundlegend verändern. Maßnahme um Maßnahme wird in den nächsten ein bis fünf Jahren umgesetzt und ausgerollt. Die Maßnahmenleiter im BMI und die Projektleiter der Einführungsprojekte in den einführenden Behörden bekommen die dadurch verstärkte Spaltung zwischen Anywheres und Somewheres von Anfang an zu spüren. Schon sehr früh offenbart sich das breite Spektrum der Bedürfnisse der zahlreichen Stakeholder, wozu Behördenleitung, Fachabteilungen, Personalrat, Schwerbehindertenbeauftragte, DSB, IT-SiBe und Fachteams zählen, die sich letztlich alle aus den Bediensteten rekrutieren. Während ein Teil dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – in ihren vielfältigen Rollen – in den kommenden Veränderungen Chancen sehen, sind andere zunehmend verunsichert. Dies betrifft sowohl die künftigen Arbeitsabläufe, als auch die persönliche Rolle der Agierenden.
Führungskräfte stehen damit vor der Herausforderung, die Digitalisierung im Spannungsfeld einer heterogenen, sich zunehmend spaltenden und überalternden Organisation voranzutreiben, ohne dabei einen Großteil der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter emotional oder auch tatsächlich zu verlieren. Auch wenn die Unterscheidung zwischen Somewheres und Anywheres so explizit kaum auftreten wird, so gibt es doch Menschen, die mit technologischen und organisatorischen Veränderungen besser umgehen können als andere. Während die einen die wachsende Individualverantwortung befürworten, fühlen sich die anderen unter einen Druck gesetzt, dem sie sich kaum gewachsen fühlen.
Davon auszugehen, dass sich das schon mit der Zeit geben wird, scheint vor dem Hintergrund der oben genannten Erkenntnisse zu kurz gedacht. Bedürfnisse, wie sie eher den Somewheres zugeschrieben werden – und zutiefst menschliche Bedürfnisse wie Sicherheit und Geborgenheit sind – werden auch in den folgenden Generationen im großen Umfang zu finden sein.
Behördenleitungen und Führungskräfte rekrutieren sich zum Großteil aus der Gruppe der Anywheres. Sie verantworten, initiieren und managen die Transition in die digitale Welt. Dies führt oftmals zu systembedingten Fehlern. Denn das Veränderungsmanagement wird meist von Personen geplant, die sich nur bedingt in die Gedanken- und Gefühlswelt eines Großteils der Betroffenen – der Somewheres – einfühlen können. Dies führt oftmals zum Bagatellisieren der Bedürfnisse der Somewheres, bei gleichzeitigem Überbetonen der Bedürfnisse der Anywheres. In der Behörde entsteht so schnell ein Ungleichgewicht zulasten der Somewheres.
In der Privatwirtschaft können Führungsfehler zu Personalabgängen führen, die durch anforderungsgerechte Neubesetzung behoben werden und daher kaum ins Gewicht fallen. Für die Führungskräfte in der öffentlichen Verwaltung wird es wegen der dort viel schwierigeren Personalgewinnung besonders wichtig, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihren unterschiedlichen Bedürfnissen wahrzunehmen und die Digitalisierung so zu gestalten, dass alle Beteiligten die Auslöser, das Ziel und den Prozess der Veränderung akzeptieren. Behördenleitungen müssen ein Zielbild für ihre Behörden der Zukunft entwickeln, indem sich möglichst viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wiederfinden können. Führungsfehler können hier zu andauernden Reibungsverlusten bis hin zu permanent hohen Krankenständen führen.
Daher müssen sich Führungskräfte der Wichtigkeit eines professionellen Veränderungsmanagements bewusst werden und dieses bei jedem Digitalisierungsvorhaben in den Veränderungsprozess mit adäquaten Mitteln integrieren. Nur mit Kommunikations- und Beteiligungsformen, die sowohl Somewheres als auch Anywheres ansprechen, kann eine hohe Akzeptanz der Digitalisierungsvorhaben erreicht werden! So können Anywheres große Visionen entwickeln, die mit der Hilfe von Somewheres auf konkrete Maßnahmen heruntergebrochen und realistisch eingeplant werden.
Im Gegensatz zu den IT-technologischen Entwicklungen der Vergangenheit bringt die Digitalisierung neben technologischen Neuerungen auch umfangreiche Änderungen in der Arbeitskultur mit sich. So wird sich zukünftig in Behörden die Art und Weise der Zusammenarbeit und Kommunikation grundlegend verändern. Ortsunabhängiges Arbeiten wird da nur eine der wesentlichen Veränderung darstellen. Übernahme von einfachen Routineaufgaben durch KI, Verschiebung der Sachbearbeitung hin zu höherwertigen wissensbasierten Aufgaben oder größere eigene Entscheidungsbefugnisse sind weitere tiefgreifende Veränderungen, an die sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anpassen müssen. Während in den letzten Jahren die IT eher Aufgaben und Prozesse unterstützt hat, bringt die Digitalisierung oftmals eine komplette Umwälzung des eigenen Arbeitsumfeldes und der Reichweite des eigenen Handelns mit sich. Die Extrovertierten unter den Anywheres sehen hierin Chancen, die eigene Sichtbarkeit zu erhöhen, wogegen die neue Transparenz bei Somewheres Ängste vor Überwachung und Versagensängste auslöst.
Veränderungen sollten daher nicht einfach geschehen, sondern durch Führungskräfte mit Rücksicht auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der beiden Mitarbeiterextreme hin gestaltet werden. Telearbeit kann für einen Anywhere Freiheit und Mobilität bedeuten, wohingegen sie für einen Somewhere in psychischen Stress ausarten kann, da Sicherheit und das vertraute Umfeld der Kollegen verloren gehen. Mehr Eigenverantwortung ist für den Anywhere ein Ansporn und Lob zugleich, während ein Somewhere darin höheren Leistungsdruck sieht. Die Digitalisierung verlangt, mehr als die bisherigen Neuerungen in der Arbeitswelt, eine Bereitschaft zur permanenten Weiterbildung. Sie erfordert ein höheres Maß an geistiger Flexibilität und Selbstbewusstsein von den Somewheres. Maßnahmen sollten im Sinne des Design-Thinking-Ansatzes von Beginn an aus der Organisation heraus unter intensiver Beteiligung möglichst unterschiedlichster Interessensgruppen entwickelt werden. So kann bereits in der Planungsphase verhindert werden, dass Vorhaben angestoßen werden, die entweder zu klein sind, um notwendige Veränderung voranzubringen, oder zu visionär und vorhandene Möglichkeiten aus dem Blick verlieren.
Führungskräfte der Zukunft verkörpern demnach nicht mehr typische Hierarchen, sondern sind auch „Ermöglicher“ (Facilitators), die die Stärken und Bedürfnisse beider Mitarbeitergruppen erkennen und Rahmenbedingungen so gestalten müssen, dass beide ihre Fähigkeiten gewinnbringend für die Organisation einbringen können.
Zu den Rahmenbedingungen gehört, dass sich die Akteure stressfrei einbringen können. Das beinhaltet das offizielle Freistellen von Arbeiten des Tagesgeschäftes und die Sicherstellung deren Übernahme durch Ersatzpersonal. Aber die Angst vor Fehlern, dem eigenen Versagen und gar dem Arbeitsplatzverlust muss durch geeignete Maßnahmen glaubhaft genommen werden.
- Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen wahrnehmen
- Kommunikation und Beteiligung im Team entsprechend des gesamten Spektrums gestalten
- Einen sicheren Rahmen dafür schaffen (Freistellung, Tarifverträge etc.)
- Personalentwicklung stärkenbasiert gestalten, ohne das Notwendige zu unterlassen
- Selbstorganisation von Teams fördern
- Fehlerkultur etablieren, um eine möglichst offene Kommunikation zu ermöglichen
Herausforderungen für Führungskräfte
Obwohl oder gerade weil den Führungskräften in der digitalen Transformation eine besondere Rolle zukommt, können und sollten sie nicht einzeln agieren beziehungsweise mit ihren herausfordernden Aufgaben allein gelassen werden. Die Digitalisierung ist kein kurzzeitiges Phänomen, das jetzt überstanden werden muss. Vielmehr setzt sie den Prozess des stetigen Wandels in immer kürzer werdenden Abständen und mit immer radikaleren Wechseln fort. Doch wenn sich alles so sehr verändert, dann muss es auch tiefgreifende ganzheitliche Änderungen in der Organisation, den Prozessen und den Berufsbildern geben. Mit Methoden der Organisationsentwicklung wie Aufgabenkritik und Geschäftsprozessanalyse müssen diese herausgearbeitet werden. Gerade vor dem Hintergrund der modellhaften Aufspaltung der Belegschaft in Somewheres und Anywheres muss der Einsatz von Ressourcen auf Zweckmäßigkeit und Effizienz untersucht werden. Wie der Stadtstaat Bremen es bereits vorgemacht hat3, kommt es zu einem neuen Zuschnitt der Berufsbilder. Ob Beamte oder Angestellte – alle müssen künftig einen deutlich höheren Teil ihrer Arbeitszeit für Weiterbildung aufwenden. Die Führungskräfte müssen sich daher dauerhaft um die unterschiedlichen Anforderungsprofile von Anywheres und Somewheres kümmern. Daher sollte die Behördenleitung Maßnahmen des Veränderungsmanagements zentral anstoßen und gemeinsam mit den Führungskräften entwickeln.
Häufig haben einzelne Behörden jedoch weder Zeit für derartige Überlegungen noch ausreichende Mittel für die notwendigen Veränderungen. Die bereits vielerorts geführten Diskussionen müssen daher stärker behörden-, ressort- und verwaltungsübergreifend geführt und Antworten auf Fragen wie die folgenden erarbeitet werden:
- Wie verändern sich die Aufgaben der Verwaltung?
- Welche neuen Berufsbilder wird es geben und wie verändern sich die bestehenden?
- Was geschieht mit den Beschäftigten, die aufgrund von Digitalisierungsvorhaben ihre bisherige Tätigkeit verlieren?
- Wie können die Übergänge in die neuen Berufsbilder sowohl für Somewheres als auch für Anywheres positiv gestaltet werden?
- Wie kommen wir zu einer neuen Führungskultur, in der diese Transition reibungsfrei vonstattengehen kann?
Fazit
Dass es eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Spaltung der Arbeitswelt in zwei Gruppen gibt, haben mittlerweile alle Führungskräfte verinnerlicht. Beachtenswert ist jedoch der Gedanke von Gauck, dass der ausschließliche Erfolg der einen zur Verweigerung der anderen führt. Die Digitalisierung begünstigt zunächst einmal vor allem die Anywheres. Werden nur sie zu Gewinnern, verstärkt es die Ablehnung, die Wut oder die Resignation der Somewheres. Da in der öffentlichen Verwaltung die Somewheres überwiegen, kann das zu großer Unruhe, Reibungsverlusten und erhöhtem Krankenstand führen. Eine nachhaltige Veränderungsplanung muss daher das Ziel haben, die Somewheres ebenso zu Gewinnern zu machen wie die Anywheres.
Quellenangaben:
1 Joachim Gauck: Toleranz: einfach schwer (Herder Verlag, 2019).
2 David Goodhart: The Road to Somewhere: The Populist Revolt and the Future ofPolitics (C Hurst & Co Publishers Ltd, 2017).
3 Siehe Interview mit Henning Lühr in diesem Heft.